Prolog
…besteht aus der Ober- und der Niederlausitz.
…hat eine bergige und hügelige Landschaft, mit vielen Gewässern – natürlichen und künstlichen, sichtbaren und unterirdisch verlaufenden -, mit Heide, Wäldern, Hainen und Auen, mit Blau- und Preiselbeeren, Brom- und Himbeeren, mit einem großen Reichtum an Pilzen.
…ist vor allem die Heimat von Slawen (Sorben bzw. Wenden) und Deutschen, heute auch von Menschen, die als Flüchtlinge kamen.
Die Slawen lebten in der Lausitz vor den Deutschen. Diese kamen zunächst als Eroberer, später als Aufseher über die Slawen im Dienste der jeweiligen Obrigkeit und noch später als Arbeitskräfte für die Bergwerke, Kraftwerke und für andere mit der Förderung der Braunkohle verbundene und von ihr abhängige Industriebetriebe.
Slawen und Deutsche vermischten sich, vergaßen dabei oft die eigenen Traditionen. Unterscheiden sich von ihren nördlicher wohnenden und spröderen Landsleuten aber in der Aussprache, Sinnlichkeit und Gefühlslage. Sie sind mehr ost- als westeuropäisch geprägt.
…ist nicht rechter, linker, konservativer, demokratischer oder“revolutionärer“ als andere Regionen Deutschlands. Der einzige Unterschied (zum Altbundesgebiet), hier leben Menschen, die mehrere politische Systeme erlebten und erleben. Deshalb kritischer sind, eine schnellere Bereitschaft zum Wechsel zeigen und sich nicht leicht überzeugen bzw. gewinnen lassen.
Wer diese Menschen nicht mit dem Herzen verstehen will, wird sie mit dem Wort nicht gewinnen!
…ist eine der wirtschaftlich am schwersten gebeutelten Regionen des gegenwärtigen Deutschlands.
…ist eine Region, deren Leben in einigen Teilen fast 150 Jahre lang von der Industrie geprägt war, die ihre Spuren in der Landschaft und bei den Menschen hinterließ. Einst lebendige Städte und Orte suchen mit viel Mühe den Weg in die Zukunft. Sehr oft allein gelassen, vielfach nicht verstanden oder bewusst missverstanden.
…ist eine von Menschen bewohnte Region, von vielen Tierarten als Heimat auserkoren und mit einer Vielzahl von Fabelwesen gesegnet. In Westeuropa gibt es etwas gleichartiges vor allem auf der Insel Irland.
Menschen, Tiere und Fabelwesen koexistierten und koexistieren, auch wenn dies den in der Lausitz lebvenden Menschen nicht imnmer bewusst ist. Ob es die Lutkis sind, die helfenden Waldelefen (Bludniki) oder der Zauberer Krabat – sie sind immer präsent. Als Geschichten, in der Kunst oder in der gestaltenden Architektur.
…ist eine Region, die sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in einem dauerhaften Umbruch befindet. Damit Berlin leben konnte, verschwanden Wälder, Felder, Seen, Teiche, Flüsschen, Mühlen, Dörfer und Orte. Die der Kohle entleerte Erde wurde auf- bzw. gefüllt – mit den Überbleibseln der Tagebaue und Industriebetriebe, mit Wasser der einheimischen Flüsse. Damit die noch bestehenden Städte, Dörfer und Orte weiterleben können, muss das Erde verschlingende, Löcher bildende, Straßen zerstörende, die Natur mit Schadstoffen schädigende uind die Standfestigkeit der Häuser gefährdende Wasser gebändigt werden.
..ist eine Region, die historisch und geographisch zusammengehört, aber sich über zwei Bundesländer verteilt und damit leben muss, dass diese Situation für eine ganzheitliche Entwicklung von Nieder- und Oberlausitz nicht unbedingt förderlich ist.
…ist eine Region, der die Ansiedlung eines Industriegiganten wie Tesla gut bekommen wäre.
Industriebrachen sind noch immer vorhanden, Natur hätte nicht zerstört werden müssen, Wasser ist reichlich und man hätte einen echten Beitrag geleistet, um die Lausitz als „Zukunftsregion“ international zu etablieren. Die Politik war nicht in der Lage, das zu erkennen. Damit steht zu befürchten, dass die vielen Bekundundungen, einen behutsamen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbruch in der Lausitz fördern zu wollen, in eine zeitlich nicht definierte Zukunft gemalte Luftschlösser sind.
…ist eine Region, die bis heute soviel Einfluss auf meine Entwicklung nahm und nimmt, wie ich es nie vermutet hätte, als ich 1972 von dem auf die Ober- und die Niederlausitz verteilten Lauta (vormals: Lautawerk) in die „Welt“ aufbrach. Ob ich bei der Armee war, in Halle oder Potsdam lebte, die Lausitz ließ mich nie los. Sie war und ist der Sehnsuchtsort, zu dem es einen hinzieht, aber in dem man – weil die Welt soviel zu bieten hat – nicht ausschließlich leben möchte. Es sei denn, man hat für sich entschieden, dass die Welt nicht mehr zu bieten hat, als die Lausitz zu geben vermag.
Wie sich mein (Lausitz) Weltbild entwickelte
Als ich in die Welt entlassen wurde, war mir über viele Jahre nicht klar, wo ich geographisch gelandet war, mit was für Menschen ich zu tun haben würde und was das Leben mit mir vorhatte. Selbst wenn ich es gewusst hätte; zurück ging es nicht mehr. Zumal mein Versuch, das Leben gar nicht erst annehmen zu wollen, mit einigen kräftigen Berührungen des Hinterteils vereitelt worden war. Der erste Schrei signalisierte meine Eltern, vor allem meinem Vater, der erwünschte Stammhalter nimmt seine ihm vom Leben zugeteilte Aufgabe an und seinen Platz in dieser Welt ein.
Acht Jahre war es damals her, dass der von den Deutschen zum Heros erkorene Führer freiwillig aus dem Leben geschieden war. Sieben Tage vor meiner Geburt hatte sich der „Führer aller Völker“, das „größte Genie, das die Menschheit je hervorbrachte“ aus der Welt verabschiedet. Ich kannte beide nicht. War mir auch egal. Hatte ich doch genug damit zu tun, mir die Welt des Hauses, in dem ich geboren wurde, zu erschließen und die Familie, die ab zwei Jahre nach meiner Geburt stetig anwuchs, zu überschauen und zu verstehen.
Beide „Führer“ drängten sich dennoch in mein Leben. Immer und immer wieder. Die „Stalinallee“ begleitete mich einige Jahre, bis daraus die Straße der Freundschaft wurde. Seine Nachfolger beeinflussten über ihre Vertreter in Deutschland und mit der von ihnen betriebenen Politik bis 1989 mein Leben. Jungpionier, Thälmannpionier, FDJ, Gruppenrat, Freundschaftsrat, FDJ-Sekretär… . Man hatte für mich entschieden, welchen Lebensweg ich zu beschreiten hatte, und dazu sah ich (zunächst) keine Alternative.
Der andere Führer war ebenfalls dauerhaft präsent, auch wenn ichmit ihm nichts zu tun haben wollte. Die Familie hatte unter ihm gelebt und war von den Folgen dieser Herrschaft betroffen. Die Nachbarn erzählten von ihrer 1945 zusammengebrochenen Welt, die Zeitungen (auch die meiner Kindheit – Atze, Trommel, Fröhlich sein und Singen, Junge Welt) waren gefüllt mit Beiträgen über diese Zeit. Und als wir endlich einen eigenen Fernsehapparat hatten, kamen die sich mit dem Nationalsozialismuns und seiner Herrschaft befassenden Fernsehfilme und -serien hinzu. Neugierig geworden, legte ich mir ein Notizheft an und begann mit dem Aufbau einer eigenen Enzyklopädie zum Thema „Das Dritte Reich“. Darin wurden alle Begriffe festgehalten, die mit dem Fernsehen in die Wohnzimmer und damit in die Köpfe von Kindern und Jugendlichen kamen, die uns aber nicht erklärt wurden. Als meine „Enzyklopädie“ einen gewissen Umfang erreicht hatte, bekam sie mein Vater zu Gesicht. Umgehend verurteilte er sie zum Autodafé. Im Feuerschlund des Waschkessels erlitt mein gesammeltes Wissen über das „Dritte Reich“ den Flammentod und hinterließ in meinem Bewusstsein die Erkenntnis, mich künftig mit anderen Themen zu befassen. Schulbibliohek, Schalmeienzug, Fußball, AG Modelleisenbahn, AG Raketentechnik, AG Gartenbau, Judo, Geräteturnen und Segelfliegen füllten die entstandene Lücke. Innere Ruhe brachte mir das aber nicht.
Die Welt, in die ich entlassen wurde, war (für mich) riesig. Wohnung, Garten, Nachbargärten, Nachbarstraßen… Ständig kam was Neues hinzu. Mit vier oder fünf Jahren unternahm ich den ersten Versuch, das mir allein näher anzusehen. Zum Erschrecken meiner Eltern, die mich aus dem Kindergarten abholen wollten. Eine sofort eingeleitete Suchaktion brachte das Ende dieser ersten „Welt“-Reise und mir die (von meinen Eltern mit Nachdruck vermittelte) Erkenntnis, künftig planvoller vorzugehen.
Und so erschloss sich mir nach und nach meine, vor allem, in Nord und Süd geteilte, Heimatstadt. Ich lernte die Orte in der Umgebung kennen, durfte in die weite Ferne führende Reisen unternehmen – nach Senftenberg, Hoyerswerda, Kamenz, Dresden, Bautzen oder Görlitz.Zwar stets in Begleitung: mit den Eltern, mit der Schulklasse oder im Ferienlager. Fahrten von 50 Kilometer Länge waren schon etwas Herausragend und der absolute Höhepunkt: Besuche bei der in Potsdam wohnenden Großmutter.
Meine damalige Welt hatte eine Unmenge zu bieten und nie kam mir der Gedanke, dass ich das Bedürfnis hätte, auch die darüber hinausgehende Welt kennenlernen zu wollen. Zumindest so lange nicht, wie ich keine Chance sah, das auch bezahlen zu können. Die Bücher halfen mir, die Lücke zu füllen und die Farbigkeit der großen und weiten Welt zu erfühlen.
Doch auf das Erfühlen folgte der Wunsch, das aus den Büchern Herausgelesene in der Wirklichkeit zu sehen, die mir durch das fehlende Geld gesetzten Grenzen zu überschreiten. Und als die Armee mir diese Chance bot, habe ich diese ergriffen und bin gegangen – mehr oder weniger freiwillig. Aber neugierig auf das Kommende und zuglerich mit Angst und Sorge, ob ich bestehen würde.
Viele sind geblieben oder kehrten wieder zurück in die kleine Welt der Lausitz. Die viel bot. Aber für Menschen, die verändern oder bewegen wollten, die dazu nach Gleichgesinnten suchten, war sie zu klein bzw. wurde es. Die weite Welt bot mehr Chancen zum Wählen, wem man vertrauen wollte und wem nicht. In der kleinen Welt waren sie geringer, und wer nicht weiter wusste, landete irgendwann bei den verständnisvoll zuhörenden Herren der Staatssicherheit; und in der Hölle der Zuträgerei. Aber das wurde dem einen oider anderen erst später bewusst. Gerhard Gundermann musste alle Phasen des Höllenritts durchleiden, und ist (auch daran) kaputtgegangen.
Im hohen Alter begegnen mir immer wieder Menschen, die meinen, ich hätte schon von früher Kindheit an anders zu leben gehabt. Sie sind so davon überzeugt, dass es keinen Sinn macht zu fragen, ob sie eigentlich selbst richtig gelebt hatten und irgenwann mal den Versuch unternahmen, das eigene Leben zu reflektieren. Hätten sie es getan, wüssten sie, dass vor dem Belehren das Zuhören kommen sollte und es besser wäre, nach dem Zuhören das Belehren zu lassen.
Einheimische und Fremde
Es gibt Situationen, da sind die Einheimischen Fremde und die Fremden Einheimische. Der Blickwinkel macht es, oder besser der Standpunkt.
In Lautawerk zur Welt gekommen, meinte ich, ein Einheimischer zu sein. Doch nach und nach wurde mir bewusst, dass das für meine kleine Welt galt. Aber ich schon darüber hinaus, als „Fremder“ gesehen wurde. Was ich aber mehr fühlte, als verstehen konnte. Wie auch. Hatten schon die Erwachsenen Probleme damit. Aber sie bewältigten sie besser. Indem sie die Probleme gar nicht erst an sich herankommen ließen.
…wird fortgesetzt
© Dr. Volker Punzel, GeschichtsManufaktur Potsdam (18.10.2020)
Danke. Spiegelt sich in meinen Erinnerungen wieder.
Bin gespannt auf die Fortsetzung.